![]() Kleine Dinge, die das Herz berühren. Das ist die Übersetzung von »Dim-Sum«, diesen gedünsteten oder gebratenen Häppchen, Teigtaschen mit Bambussprossen, Pilzen und Schweinefleisch, Fischklösse, Frühlings- oder Tarorollen. Es ist Morgen in Downtown Hongkong, bereits hastet, pulsiert und keucht das Leben auf den Strassen, und die Grossstadthektik sickert auch ins Innere des Lokals. Geschirr klappert, Gäste schaufeln am Fliessband mit Stäbchen Portionen in den Mund, schlürfen den siedend heissen Jasmintee und versuchen lautstark, den Lärmpegel zu übertönen. Kellner wirbeln um die Tische, giessen aus der Höhe den Tee mit Wasser auf. Allerdings nur, wenn der Gast den Deckel seiner Kanne offen lässt. Dieses Ritual hat seine Geschichte: Vor langer Zeit kam der Besitzer eines Singvogels mit seinem Tier ins Teehaus. Da er des Vogels überdrüssig war, steckte er ihn in eine leere Teekanne. Der Kellner, der das nicht sah, übergoss und verbrühte den gefiederten Sänger und musste ihn ersetzen. Seither gilt: Deckel auf, wer Tee nachgeschenkt haben möchte. Tee ist ein Teil vom Leben, Tee erwärmt die Seele, Tee versöhnt, Tee besiegelt. Und: Tee reinigt und fördert die Verdauung. Kantonesische Küche erfreut sich unverändert grosser Beliebtheit Das ist wichtig, denn in Hongkong wird gerne gut und viel gegessen. Wer in die Häuserschluchten eintaucht, treibt in einem Kessel mit verschiedensten kultu-rellen Zutaten. Das trendy SoHo (South of Hollywood Street) macht auf international, hier kocht der Russe neben dem Portugiesen, der Brasilianer eine Treppe über dem Nepalesen. Nur einige Strassen weiter stehen im Lan-Kwai-Fong-Quartier gestylte Menschen an gestylten Bars. Den wechselnden kulinarischen Trends zum Trotz erfreut sich die kantonesische Küche unverändert grosser Beliebtheit. Im Western District verkaufen die Händler die notwendigen Ingredienzen, getrocknet liegt hier alles, was wächst, fliegt, läuft und schwimmt. Vor einem der Geschäfte brennen Sandelholz-Räucherstäbchen zu Ehren des Gottes der Erde. Der süsse Duft vertreibt die Bitterkeit der allermeisten Hongkong-Chinesen über die beschränkten Raumverhältnisse zu Hause in ihrer Bienenwabenwohnung in einem der Wolkenkratzer. «Wir laden nie zu uns nach Hause ein, wir leben auf engstem Raum und würden einem Besuch gegenüber unser Gesicht verlieren», erklärt Stephen Wong vom lokalen Verkehrsbüro. Deshalb sind Restaurants Treffpunkte und Unterhaltungsorte, rund 10 000 gibt es in der 6,8-Millionen-Metropole, das macht auf knapp 700 Einwohner ein Esslokal. Ein riesiges Angebot, das sich fast täglich ändert. Jetzt, wo Hongkongs Wirtschaft nach der überstandenen Asienkrise neu entflammt ist, kocht die Metropole an immer neuen Ecken und Orten. Und wo es nicht schmeckt, dort wird auch schnell wieder geschlossen. Was umso mehr für das Yung-Kee-Restaurant spricht. Schon fast sechzig Jahre bietet diese Institution eine der feinsten kantonesischen Küchen auf Hongkonger Boden und seit neustem auch am Himmel. Denn die Küchenchefs vom Yung Kee arbeiten mit Cathay Pacific zusammen, im Rahmen des neuen «Best Chinese Food in the Sky»-Foodkonzepts bereiten sie Haute Board Cuisine auf allen Flügen aus Hongkong zu. Das Yung Kee selbst macht auf Understatement, keine überflüssige Dekoration lenkt drinnen vom Wesentlichen, vom Essen, ab. Feierlich trägt der Kellner Schüssel um Schüssel auf und serviert diese in der Tischmitte auf einer drehbaren Glasplatte, sodass jeder Gast aus jeder Schüssel schöpfen kann. Wie viele Gänge man bestellt? Als Faustregel gilt: Die Anzahl der Esser plus eine, doch keinesfalls sieben, denn nur bei Beerdi-gungsessen werden sieben vegetarische Gänge gereicht. Die Speisenfolge wird sorgfältig komponiert, als Intro Mildes, Dezentes, das sich dann zum raffiniert Gewürzten steigert. Ein Crescendo für die Sinne. Als Delikatesse gilt die handflächengrosse Abalone-Muschel, im Wein getunkt und gedämpft. Vom Aussehen her an einen marinierten Champignon erinnernd, schmeckt die zarte Abalone ähnlich wie die Jakobsmuschel. Die Abalone ist so kostbar wie in Europa die Trüffel, ein Kilogramm kostet bis zu 500 Franken. Spezialität des Hauses Yung Kee ist die geröstete Gans mit der knackigen rotgold kandierten Hautkruste. So viele Gäste transportieren den Leckerbissen gar mit nach Hause, dass sie den Übernamen «fliegende Gans» bekommen hat. Nach den Hauptgängen folgt eine klare Suppe, ausgekocht mit den Resten nicht verspeisten Fleisches oder des Seafood. Und wer am Schluss den gebratenen Reis zurückweist, gilt durchaus als höflich, denn Reis isst nur, wer nach dem üppigen Mahl wirklich noch nicht satt ist. Nicht nur Reihenfolge, auch die Ausgewogenheit eines Mahls spielt eine Rolle, Flüssiges und Solides, erhitzende und abkühlende Speisen sollen harmonieren. Essen ist eine Kunst, ein Ereignis, eine Leidenschaft. Wenn sich die Kantonesen mit »Sik for fan may?« - Haben Sie schon gegessen? - begrüssen, wird höflicherweise bejaht. Was aber überhaupt nicht bedeutet, dass man nicht gleich zusammen das nächste Esslokal ansteuern kann. |